Dolmetscher und Übersetzer systemrelevant

Die ungebrochene Relevanz von Übersetzungen

Lehren aus der Corona-Krise

Ein wichtiger Begriff in letzter Zeit war das kleine Adjektiv „systemrelevant“. Es entschied darüber, welche Branchen arbeiten, welche Geschäfte öffnen durften und mussten, und welche Familien in Form von Notbetreuung der Kinder, in einigen Ländern auch von kostenlos überlassenen Mietfahrzeugen, Essensgutscheinen und dergleichen unterstützt wurden. Schließlich ging es darum, die Grundfunktionen des Lebens aufrechtzuerhalten.

Sind Übersetzer systemrelevant?

 

Für die Übersetzungsbranchen – und wir schreiben hier bewusst im Plural – ergab sich eine vielschichtige und paradoxe Situation.

Es gibt Dolmetscher und Dolmetscher

Als die ersten internationalen Konferenzen abgesagt und die ersten Messen und Veranstaltungen auf unbestimmte Zeit verschoben wurden, waren die Dolmetscher die ersten, die die plötzlichen Veränderungen zu spüren bekamen. Bereits Ende Februar wurde ihnen mitgeteilt, dass ihre Dienste nicht benötigt würden, und gebuchte Aufträge wurden abgesagt. Nur wenigen Unternehmen gelang es, rechtzeitig die Technik für Video-Einsätze dieser Art aufzubieten.

Dolmetscher-Mikrophon-KopfhörerParallel dazu rückte ein Dolmetscherberuf gerade in den Medien als besonders systemrelevant in den Vordergrund. In einer Zeit, in der jede noch so kleine Information lebensentscheidende Wichtigkeit erlangen konnte, wurde deutlich, wie unentbehrlich Gebärdendolmetscher weltweit als Mitglieder der Krisenstäbe wurden.

Was sich hier zeigte, ist auch für die Übersetzungsbranche allgemein ein Zeichen: Die genaue und zielgruppengerechte Übertragung von essentiellen Informationen ist ohne die Arbeit eines hochqualifizierten Mittlers nicht möglich, und wenn es darauf ankommt, wissen dies auch Regierungen und Behörden zu schätzen und umzusetzen. Nicht Maschinen und KI wurden eingesetzt, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die in Sekundenschnelle die Fakten sortiert und doch lückenlos, verständlich, gezielt, einfühlsam und ohne in einer solchen Lage verheerende Zweideutigkeiten kommunizieren konnten – eben das, was auch zwischen Fremdsprachen einen guten Dolmetscher ausmacht.

Übersetzungen und internationale wirtschaftliche Beziehungen: Bilder einer Symbiose

Ebenso wurde in den letzten Monaten schmerzlich deutlich, wie sehr unsere globalisierte Welt von einer reibungslosen Funktion der Logistikketten in Industrie und Dienstleistungen abhängig ist. Warenlieferungen für den Endverbraucher und die Industrie sind unerlässlich, damit unsere Arbeit und unser Alltag gesichert sind.

Diese enge Verstrickung besteht ebenfalls zwischen Wirtschaft und Übersetzung. Ohne Übersetzer können internationale Verträge über Waren- und Personenaustausch, Bestellungen und Lieferungen nicht verhandelt werden. Im gleichen Maße ist die Übersetzungsbranche von einer beständigen internationalen Wirtschaft abhängig und untrennbar mit intensiven Import-/Export-Tätigkeiten verbunden. Es ist kein Zufall, wenn viele Übersetzungsagenturen, wie eurolanguage auch, in den 1990er Jahren gegründet wurden,als Handel und Produktion sich anschickten, zunächst innerhalb Europas, später immer mehr auf weltweiter Ebene, alle Grenzen zuüberwinden. Ohne uns ist Verständigung zwischen Ländern und Unternehmen nicht möglich, ohne das rege Leben von KMU und Konzernen, ohne Tourismus und interkulturelle Begegnungen wäre auch unsere Existenz in Frage gestellt.

Systemrelevante Übersetzungen und Dolmetscherleistungen während der Corona-Krise

Fand der unmittelbare medizinisch-wissenschaftliche Austausch in den letzten Monaten hauptsächlich direkt in englischer Sprache statt,so ergab sich jedoch in einigen Regionen eine durchaus vitale Übersetzungstätigkeit, die ein neues Licht auf die Frage wirft, ob unsere Arbeit als systemrelevant einzuschätzen wäre.

In vielen europäischen Ländern führte die Schließung von Kindertagesstätten, Kindergärten und Grundschulen zu einem kurzfristig erhöhten und dringenden Übersetzungsbedarf. Eltern mit Migrationshintergrund, die in ihrer neuen Heimat der Landessprache nicht immer ausreichend mächtig sind, um schwierige Sachverhalte mit der gebotenen Eile zu verstehen, mussten schnell und verständlich informiert werden. Auch Ratschläge für die Beschäftigung der Kinder und zu Homeschooling, Merkblätter zu verspäteten Einschulungsverfahren und dergleichen mussten – oft in Echtzeit – übersetzt werden.

In Frankreich bemühten sich Gemeinden mit hohen Migrantenanteilen, die immer wieder angepassten Beschränkungsverordnungen schnellstmöglich in vielen Sprachen zur Verfügung zu stellen, um einen identischen Informationsstand aller Bevölkerungsteile zu sichern und so die Einhaltung der Regeln möglich zu machen. Städtische Wohnbaugesellschaften in den Vororten der Großstädte ließen Plakate und Wurfsendungen übersetzen, die dazu beitragen sollten, das Zusammenleben in den oft gigantischen anonymen Wohnblöcken so ansteckungsarm wie möglich zu gestalten.

In London hatten Dolmetscher in den Corona-Testzentren viel zu tun. Insbesondere in den sozial benachteiligten Schichten, die dort den Statistiken nach überdurchschnittlich vom Virus getroffen wurden, fehlt es oft an ausreichenden Sprachkenntnissen, um die zuweilen nicht ganz einfache Prozedur in Anspruch zu nehmen.

Auch in Flüchtlingslagern waren Dolmetscher unterwegs und standen Ärzten und Krankenschwestern zur Seite – worüber kaum berichtet wurde.

Doch auch eine andere Art von Übersetzungen nahm in dieser Zeit einen nicht zu unterschätzenden Platz ein und wurde zu einem wortwörtlich lebensentscheidenden Bestandteil der Kommunikation: Die Übertragung der schwierigen, sich permanent ändernden und mitunter für alle verwirrenden Neuerkenntnisse und Vorschriften in einfache Sprache war unerlässlich, um Menschen mit Behinderungen bzw. mit eingeschränktem Verständnis komplexer und abstrakter Texte barrierefrei zu informieren – eine unbestritten systemrelevante Aufgabe.

Warum Übersetzungen in Zeiten der Pandemie wichtig sind: das schlechte Beispiel Japans

Japanerin mit Corona-Maskenschutz-Übersetzer sind systemrelevantStellen Sie sich vor, Sie leben seit kurzem in einem fremden Land, sind von einer fremden Sprache umgeben, die Sie mittlerweile gerade genug beherrschen, um einkaufen zu gehen und ein unverbindliches Pläuschchen mit dem Nachbarn zu halten, deren Schrift Sie aber noch nicht lesen können. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass Sie nicht der einzige in dieser Situation sind, sondern es Millionen wie Sie gibt. Stellen Sie sich nun vor, es käme gerade jetzt zu einer Pandemie. Um zu wissen, was wie auf Sie zukommt, brauchen Sie Informationen, die Sie verstehen, Aushänge, die Sie lesen können. Und stellen Sie sich schließlich vor, dass es so etwas nicht gibt, dass Sie keinerlei Zugang zu den Beschränkungen und Verboten in Ihrer Stadt bekommen können, dass Sie nichts über die tatsächlichen Ansteckungszahlen vor Ort erfahren können, dass Sie sich gestrandet und verlassen fühlen.

Dies erlebten ausländische Mitarbeiter und Touristen in Japan zu Beginn dieser Pandemie, und die japanische Regierung sah sich deswegen mit einer sehr harten Kritik ihres Krisenmanagements konfrontiert. Viele Verlautbarungen und Vorschriften standen nur in der Landesschrift zu Verfügung, was den unvermeidlichen Stress- und Verunsicherungsfaktor noch deutlich erhöhte. In einer zweiten Phase wurden zwar Übersetzungs-Apps eingesetzt, die jedoch höchstens in englischer Sprache angeboten wurden und – den Aussagen der Betroffenen nach – eher als Krücke denn als Hilfe zu sehen waren. Wenn es darauf ankommt, geht eben nichts über die menschliche Übersetzung.

Übersetzungen nach Corona

Übersetzungen werden zur Wiederherstellung der Logistikketten beitragen

Nach den Lockerungen und mit dem langsamen Anlauf der Wirtschaft ist ein Anstieg des Übersetzungsbedarfs zu erwarten. Der Waren- und Personenverkehr zwischen Ländern läuft noch nicht reibungslos, Messen und touristische Veranstaltungen sind noch zu planen, und es sind noch viele Detailfragen zu klären: In den unterschiedlichen Ländern ändert sich der Stand der Dinge täglich, was nur mit einer differenzierten und feinfühligen Sprache zu vermitteln ist.

Auch betriebsinterne und betriebsübergreifende Kommunikation wird in den kommenden Wochen und Monaten für einen reibungslosen Übergang zu dem, was wir Normalität nennen werden, immer entscheidender sein.

Online-Handel: die „Gewinner“ der Krise werden gute Übersetzungen brauchen

In einer Zeit, in der noch immer Menschen sterben und die Zukunft für so viele unsicher bleibt, von „Gewinnern“ zu sprechen, mag zynisch klingen. Doch wirtschaftlich haben im B2C tatsächlich die Unternehmen Glück im Unglück, denen es gelingt, ihre Produkte online zu verkaufen – ganz gleich, ob sie sich damit eine Alternative zu ihrem Ladengeschäft eröffnen wollen oder sich ganz und gar auf die digitale Welt beschränken. Für diese Händler wird es nicht genügen, auf kostenlose maschinelle Übersetzungen zurückzugreifen: Gerade weil es ihnen viele nachmachen werden, werden sie es sich nicht leisten können, sich auf den regionalen Markt zu beschränken. Im internationalen Maßstab wiederum wird angesichts der unbegrenzten Konkurrenz die Qualität der Produktvorstellungen in Text und Bild entscheidend sein.

Übersetzungen jenseits der Globalisierung

Die Pandemie hat die Globalisierung in ein neues Licht gerückt, und nicht selten wurden Skepsis und Kritik laut. Manche Ökonomen sehen Anzeichen für eine Relokalisierung einer Vielzahl von Wirtschaftsangeboten. Hierfür wird mittelfristig eine sehr dezidierte Ansprache von Kunden und potentiellen Partnern notwendig sein, die interkulturelle Kompetenz unerlässlich und unersetzlich macht.

Wissenschaft und Medizin brauchen präzise Übersetzungen

Medizinische Übersetzungen in der CoronakriseEnglisch spricht in der Wissenschaft jeder, und das reicht doch auch. Oder? Dass dem nicht so ist, zeigt dieses Beispiel. Spätestens dann, wenn eine Brücke zwischen Wissenschaft und Laien geschlagen werden soll, werden gute, zuverlässige und stimmige Übersetzungen gebraucht. Mit der zunehmenden Auswertung der Daten, der Entwicklung eines Impfstoffs oder eines Medikaments wird auch in den kommenden Monaten ein großer Übersetzungsbedarf entstehen. Sprache spielt an der Schnittstelle zwischen Forschung und Öffentlichkeit bzw. zwischen Forschung und Politik eine unermessliche Rolle. Es muss transparent informiert werden, das allgemeine Interesse ist groß, PR-Arbeit für die Akzeptanz von Ideen und Ansätzen in Bevölkerung und Politik entscheidend.

Auch wenn zu vermuten ist, dass Übersetzer, Dolmetscher und Übersetzungsagenturen nicht so bald tatsächlich als systemrelevant eingestuft werden, so ist doch zu hoffen, dass noch vor der nächsten Krise begriffen wird, wie wichtig wir als Glied in der langen Kette von Zusammenleben und Wertschöpfung sind.

 

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